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Liebe Landsleute;

am 22.Dezember 2022 verstarb unser Landsmann Prof. Joseph Milek.

Monate zuvor hat er noch seine Biografie in Englisch niedergeschrieben. Seine Lebensgefährtin Frau Wheeler hat mir diesen Lebenslauf zugesandt der von unserer Landsfrau Theresia Schulz geborene Karl (1948) ins deutsche übersetzt wurde. Wir bedanken uns bei Frau Schulz recht herzlich und freuen uns auf die beeindruckende Schilderung eines erfolgreichen Lebens.

Joseph Milek wird uns immer im Gedächtnis bleiben.

 

Bernhard Fackelmann

Vorsitzender der Samatimer HOG

 

18.01.2023

Mein Leben

 

I Die frühen Jahre

 

Ich wurde vor langer Zeit in einem weit entfernten Ort geboren. Es war in 1922 in einem kleinen deutschen Bauerndorf, dessen Entstehung ins Jahr 1724 in Rumänien zurückreicht. Sanktmartin, mein Geburtsort, war eines der einigen hundert Bauerndörfer, die in Rumänien, Ungarn und Serbien entstanden, nachdem die Türken, welche diese östlichen Gebiete Europas um die 200 Jahre besetzt hielten, endlich in ihr Heimatland zurückgetrieben wurden. Die türkische Armee hinterließ nach ihrem Rückzug die ehemals unter ihrer Kontrolle befindlichen Gebiete völlig verwüstet und nur dünn besiedelt. Was heute Rumänien, Ungarn und Serbien ist, musste wieder hergestellt und besiedelt werden. Österreich, zu jener Zeit das politische Machtzentrum Europas, übernahm diese Aufgabe. Mit dem Versprechen auf kostenloses Land, Werkzeuge, sonstigen Bedarf und professioneller Hilfe, welche zur Gründung neuer Dörfer und der Gewinnung von Ackerland erforderlich war, gelang es der österreichischen Regierung tausende deutsche Bauern zu überzeugen, ihre Sachen zu packen und mit ihren Wagen und Tieren auf großen Booten die Donau hinunter zu fahren in ihr neues Heimatland.

Die vielen neuen und weit verstreuten Bauerndörfer sahen mehr oder weniger gleich aus und hatten als Vorbild die ansprechendsten österreichischen Dörfer. Jede Siedlung besaß einen zentralen, rechteckigen Platz umgeben von einer Kirche, einem Pfarrhaus, einem Verwaltungsgebäude und der Dorfgrundschule. Alle Straßen waren breit und gerade, begrenzt von Abflussgräben und Gehwegen und waren erweiterungsfähig mit dem Wachstum der Bevölkerung. Jeder Siedlerfamilie wurden ungefähr zwei Morgen Land den Straßen entlang zugeteilt. Die Häuser darauf waren mehr oder weniger gleich: eingeschossig, langgezogen gebaut mit ungebrannten Lehmziegeln. Sie beherbergten die Familie und boten Platz für landschaftliche Geräte und Ställe für Pferde und Kühe. Jedes Haus war verputzt, weiß getüncht und mit roten Dachziegeln bedeckt. Auch die großen Höfe unterschieden sich kaum voneinander. In jedem war ein Plumpsklo, ein Misthaufen, ein Strohschober, ein Maiskoben, ein Hühnerstall, ein Taubenschlag, ein Schweinestall, ein Gemüsegarten und ein Ziehbrunnen mit einem großen hölzernen Trog zum Tränken der Tiere. Jedes Dorf hatte eine Mühle und einen Friedhof. Ackerfelder, Weinberge und Weideland umgaben jedes Dorf. Am Rande vieler Dörfer siedelten sich arme Zigeuner an. Die Zigeuner von Sanktmartin sicherten sich ihren Lebensunterhalt mit Betteln und der Herstellung von Lehmziegeln.

Sanktmartin war eines dieser zahlreichen deutschen Bauerndörfer in Rumänien und wie alle anderen bot es keine Annehmlichkeiten wie fließendes Wasser, Elektrizität, motorisierte Fahrzeuge oder Zeitungen. Ein artesischer Brunnen auf dem Dorfplatz diente der Trinkwasserversorgung, Petroleumlampen spendeten Licht, Pferdefuhrwerke sicherte den Transport und das Verbreiten von Neuigkeiten und das Ankündigen kommender Ereignisse besorgte ein Ausrufer, welcher von Straße zu Straße ging. Die breiten Straßen und der Kirchplatz waren gesäumt von schattenspenden Bäumen. Es gab keine gepflasterten Straßen und somit war es bei schönem Wetter staubig und bei Regen matschig. In den Dörfern gab es meistens nur einen Laden für Textilien und Gewürze

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Jede Familie des Dorfes war mehr oder weniger autark. Das Geflügel und die Schweine lieferten das Fleisch, der Gemüsegarten das Gemüse, die Kühe die Milch und die Felder das Getreide. Die Frauen kochten , backten, nähten die Kleidung der Familie und versorgten die Kinder, während die Männer die Tiere versorgten und die Felder bestellten. Der Tag begann mit dem Sonnenaufgang und endete bald nach Sonnenuntergang. Vor dem Frühstück mussten die Ställe gereinigt, die Tiere gefüttert und die Kühe gemolken werden. Dann fuhren die Männer mit ihren Pferdewagen zu den Feldern oder Weinbergen, die Kinder eilten in die Schule und die Frauen blieben zu Hause, um die Arbeit im Hof und im Haus zu erledigen. Um 8 Uhr abends bald nach dem Abendessen läuteten die Kirchenglocken und die Kinder gingen zu Bett, bald danach auch die Erwachsenen.

Frühling, Sommer und Herbst waren die arbeitsreichen Jahreszeiten. Der Winter diente der Erholung. In den Wintermonaten fand ein reges soziales Leben statt. Im Spätherbst wurde die Vorratskammer gefüllt. Jede Familie schlachtete ein oder zwei gemästete Schweine, um sich mit Wurst und Schinken für die anstehenden Monate zu versorgen. Das waren immer festliche Ereignisse für die Familie und Freunde. Sie dauerten einige Tage. Die Weinlese und Weinherstellung bedeuteten eine weitere gesellschaftliche Gelegenheit für angenehme Arbeit. Die Weihnachtswoche war sowohl festlich als auch feierlich. Der heilige Nikolaus ging von Haus zu Haus um ungezogene Kinder zu bedrohen oder bestrafen und an Heiligabend brachte das Christkind Geschenke für jedes Kind. Neujahr und Heiligdreikönig waren fröhliche Gelegenheiten für Kinder und Erwachsene. Die Kinder gingen von Tür zu Tür, sagten gereimte Wünsche auf und erwarteten etwas Geld oder Süßigkeiten. Die Erwachsenen feierten mit Wein und Festessen und tanzten in der Dorfhalle.. Die Feierlichkeiten erreichten ihren Höhepunkt beim Fasching im Februar gefolgt von der feierlichen Fastenzeit und Ostern. Dann fing das Arbeitsjahr von neuem an und nur an Sonntagen war Feiern und Tanzen möglich.

All diese Festlichkeiten fanden mit oder unter der Führung der Kirche statt. Es war die Kirche, welche den Zusammenhalt in den Dörfern sicherte. Jeder war katholisch und ging zur Kirche. Die Großmütter gingen in ihrer voluminösen schwarzen Kleidung und Kopftuch in die Frühmesse. Jeder wurde von der Kirche getraut und beerdigt. Der Priester war eine verehrte Person. Viele Dorfmädchen wurden Nonnen und so mancher junge Mann entschied sich für das Priesteramt. Jedes Dorf hatte eine Grundschule aber nicht mehr. Für eine weitere Bildung mussten die Kinder in eine rumänische Stadt etwa 20km weit entfernt. Das war für die meisten Familien zu umständlich und zu teuer.

So war Sanktmartin im Großen und Ganzen zwei Jahrhunderte lang und so war es, als ich geboren wurde. Die Zeit war am Dorf vorbeigegangen. Die Erinnerung an meine ersten vier Lebensjahre ist recht verschwommen. Eine spezifische Einzelheit an die ich mich erinnere ist, dass ich wie alle anderen kleinen Jungen Kleider trug wie auch die kleinen Mädchen. Meine Mutter und meine Großmutter waren beide Näherinnen und hielten es offensichtlich für leichter Kleider zu nähen als Hosen.

Im Sommer 1926 verließ meine Mutter mit mir und meiner wenig älteren Schwester Sanktmartn, um ihrem Mann nach Hamilton, Ontario zu folgen. Mein Vater war 1924 nach Kanada gegangen und arbeitete zwei Jahre auf einer Getreidefarm in Saskatchewan. Als er eine besser bezahlte Arbeit in einem Stahlwerk in Hamilton fand, holte er seine Familie nach. Das industrialisierte Hamilton zog viele arme Einwanderer aus fast allen Ländern Europas an. Die Neuankömmlinge bezogen normalerweise eines der schäbigen Häuser, die sich rund um das verrauchte, laute Fabrikgelände befanden. Eines dieser Mietshäuser in einer schlammigen Sackgasse war unseres. Die Eisenbahngleise und die laute Fabrik waren nur drei Häuserblocks entfernt. Unser schäbiges Haus hatte drei Schlafzimmer aber dafür Gas, Elektrizität, fließendes Wasser und ein Badezimmer, Luxus der in Sanktmartin unbekannt war. Es wurde schnell zu einen gemütlichen Heim für unsere Familie. Das Haus wurde auch bald zu einem Heim für ständig wechselnde Pensionsgäste: Alleinstehende, Paare , meistens Landsleute aus Sanktmartin. Es war laut, bot wenig Privatsphäre aber es war auch lebendig und als Jugendlicher genoss ich das sehr.

Meiner Familie ging es gut. Mein Vater hatte eine sichere Arbeit in dem Gießerei- und Stahlunternehmen, meine Mutter versorgte die Familie und die Pensionsgäste, meine Schwester und ich gingen in die Lloyd George Schule. Das war eine ziemlich neue Grundschule und war nur einige Häuserblocks entfernt. Ich war erst vier Jahre alt, bestand aber stur darauf, zusammen mit meiner Schwester in den Kindergarten zu gehen. Die Schule willigte ein und alles lief bestens.

Die Schule bereitete mir Freude. Ich lernte recht schnell Englisch und gewann viele neue Freunde; die meisten von ihnen Einwandererkinder Ich war gefangen zwischen zwei verschieden Welten, die Schule und die Straßen, wo Englisch gesprochen wurde und mein Zuhause, wo man nur Deutsch hörte. Die neue und die alte Welt existierten nebeneinander, glücklicherweise zu meinem Vorteil. Das dauerte so an bis zu meinem Abschluss an der McMaster Universität von Hamilton, als ich nach Harvard zog.

Aber nun bin ich mir selbst vorausgeeilt. Bis zu meiner Zeit in Harvard musste noch viel Wasser den Fluss hinunterfließen. Zu Hause, in der Schule und in der Fabrik lief alles gut bis zum Anfang der Großen Depression im Jahre 1929. Als die Arbeitslosenzahlen anfingen zu wachsen, beschlossen meine besorgten Eltern, meine Schwester und mich nach Sanktmartin zu den Eltern meiner Mutter zu schicken. Sie wollten nachkommen, wenn die Fabrik geschlossen werden sollte. Die Fabrik musste jedoch nicht schließen und als mein Vater sicher war, dass seine Arbeitsstelle nicht mehr gefährdet war, beschloss er, dass seine Kinder wieder den Atlantik überqueren sollten, um nach Hamilton zurückzukehren. Meine Schwester und ich waren zeitlich zurück in Hamilton, um den Unterricht in der Lloyd George Schule im Herbst 1931 wieder aufzunehmen.

Die fünfzehn Monate, die ich in Sanktmartin bei meinen fürsorglichen Großeltern verbrachte , waren die bemerkenswertesten Jahre meines Lebens, denn ich verdanke Ihnen die ganze Fülle an Erinnerungen an dieses mittelalterliche Dorf. Das Unterschiedliche beeindruckt immer am tiefsten und das alte entfernte Dorf Sanktmartin mit seiner bäuerlichen Lebensweise war sicherlich sehr verschieden vom Leben des Proletariats im Fabrikghetto eines kanadischen Stahlwerks. Das humorvolle und das Schockierende neigen dazu, sich in unserem Gedächtnis festzusetzen und für einen aus Kanada kommenden Jugendlichen, gab es viel in Sanktmartin, das mich belustigte und erschreckte. Als ich das erste mal sah, wie meine Großmutter den Hals einer Taube umdrehte, war ich geschockt und ich war auch nicht weniger bestürzt, als ich sie das erste mal sah, wie sie einem Huhn den Hals aufschltzte oder Gänse stopfte. Ich war auch ganz fassungslos, als mein sonst so sanftmütiger Großvater ein riesiges Messer in den Hals eines zur Schlachtung gemästeten Schweins rammte. Und als ich das erste Mal dabei war, als eine Kuh kalbte, musste ich weinen, da ich befürchtete, dass die laut muhende Kuh sterben würde.

Diese und viele andere tief verstörende Vorkommnisse wurden glücklicherweise ausgeglichen durch zahlreiche genauso erfreuliche Erfahrungen. Die Schweinschlachtung war immer eine festliche Zeit. Es wurde immer das Unerwartete erwartet und war häufig unterhaltsam. Einmal als mein Großvater sein Messer in den Hals des Schweins, welches von meinen zwei Onkeln festgehalten wurde, hineingestochen hatte, quiekte es laut, riss sich plötzlich los und rannte im Kreis durch den Hof, verfolgt von all den schreienden Männern. Ich schrie laut mit und lachte mich kaputt. Das Schwein brach letztendlich zusammen und alles nahm seinen üblichen gemächlichen Gang. Bei einer anderen Gelegenheit hat einer meiner Onkel, ein richtiger Witzbold, versucht mich zu überzeugen, dass ich ihm glauben sollte, dass wenn ich den Schwanz des Schlachtschweines ziehe, würde etwas Tolles passieren. Meine Neugierde siegte. Ich zog sanft am Schwanz und zu meiner großen Überraschung hatte ich plötzlich eine Tüte Süßigkeiten in der Hand offensichtlich Dank der Trickserei meines Onkels. In Sanktmartin war selbstgebackener Kuchen gängig jedoch gekaufte Bonbons gab es selten. Somit war ich froh über den Trick und genoss die Süßigkeiten.

Sanktmartin bedeutete für mich damals endlose Ferien. Ein ganzes Jahr spielte die Schule keine Rolle in meinem Leben. Da Rumänisch und nicht Deutsch die vorherrschende Sprache in der Schule war und da meine Schwester und ich nur deutsch und englisch sprachen, weigerten wir uns, in die Schule zu gehen. Da meine Großeltern überzeugt waren, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis unsere Eltern uns zu sich holen würden, gaben Sie gerne nach. Jeder Tag wurde zum Abenteuer auf den Feldern und Weinbergen oder wurde mit Spielen auf dem Hof oder der Straße verbracht. Ich begleitete meinen Großvater häufig zu den Weinbergen, etwa zwei Kilometer vom Dorf entfernt. Mir wurde erlaubt, die Zügel der schnell trottenden Pferde zu halten, behinderte meinen Großvater bei seiner Arbeit und genoss unser am Lagerfeuer zubereiteten Mittagessen. Die Erntezeit, wenn Männer und Frauen ihre Sensen schwangen und die Garben banden, erlebte ich als einer der Wasserträgerjungen als ein neuartiges ausgedehntes Picknick. Das geschäftige Pflügen und Säen war ebenfalls eine neue Erfahrung für mich. Ich saß auf dem Pferd, welches den Pflug zog; ein Vergnügen, dass ich nie vergessen werde. Die Weinlese und das Weinmachen war das geselligste der vielen gemeinschaftlichen Ereignisse in Sanktmartin. Jede Familie erntete zwei bis drei Tage lang die Trauben und warf sie in riesige Bottiche, wo dann barfüßige Kinder (Ich war eines davon) sie stampften,bis der Most in die bereitstehenden Fässer floss. Ein Wagenzug beladen mit Fässern des künftigen Weines zog dann langsam ins Dorf, wo er von einer Blaskapelle begrüßt wurde. Das war ein weiterer unvergessener Eindruck!

Von den vielen kirchenbezogenen Ereignissen, die ich in Sanktmartin erleben durfte, blieben mir zwei unauslöschlich im Gedächtnis: Begräbnisse und Hochzeiten. Beide waren gemeinschaftlich und familiär. Lautes Kirchengeläut verkündete jeden Todesfall. Die Toten wurden sofort gewaschen, angezogen und in einen einfachen, hastig vom Tischler hergestellten Sarg gebettet. Es folgte eine eintägige Totenwache. Am dritten Tag wurde der Sarg für eine Abschiedsmesse in die Kirche gebracht. Von dort wurde er auf einem Leichenwagen, gezogen von schwarzen Pferden, langsam zum Friedhof gefahren. Der Dorfpfarrer, die Messdiener, die Familien und gewöhnlich hunderte schwarzgekleidete Dorfbewohner folgten dem Sarg zu Fuß. Nach den Gebeten am Grab, dem Abschied und Begraben des Toten läuteten wieder die Kirchenglocken und die Trauergemeinde ging auseinander.

Die Hochzeiten waren in Sanktmartin so ausgelassen und festlich wie die Begräbnisse ruhig und festlich. Eine Hochzeit, an der meine Schwester und ich zusammen mit den Großeltern, Tanten, Onkeln und Vettern teilnahmen, war da keine Ausnahme. Die Braut und der Bräutigam, jeweils umgeben von Familienmitgliedern und engen Freunden, alle gekleidet in ihrer bunten Bauerntracht, gingen getrennt zur Kirche, wo zahlreiche Leute sie erwarteten. Nach der Messe und der Trauungszeremonie und begleitete von lauten Klängen des Kirchenchores, verließen die Neuvermählten mit ihren Familien und engen Freunden langsam die Kirche und begaben sich zum Haus der Braut. Auch etwa hundert Hochzeitsgäste trafen in das Haus und den Hof ein, welche gut für eine zweitägige Hochzeitsfeier vorbereitet waren. Es wurden Hühner und ein Schwein geschlachtet und große runde Laibe Brot und verschiedene Kuchen vorher gebacken. Die Hochzeitsfeier begann mit endlosen Trinksprüchen, welche von vielen Schnäpsen begleitet wurden. Dann folgte das Hochzeitsessen. Traditionell machte Hühnersuppe den Anfang, dann folgte gekochtes Hühnerfleisch mit einer Vielfalt pikanter Saucen, danach Schweinebraten mit verschiedenen Saucen. Der Wein floss in Strömen. Es wurde laut erzählt und gelacht. Bis in die Nacht wurde zu Musik getanzt. Die Hochzeitsgäste gingen dann nach Hause, um ihre Tiere zu versorgen und sich etwas zu erholen. Danach kehrten sie zurück und feierten den ganzen folgenden Tag. Das war eines der vielen aufregenden Erlebnisse meines Lebens.

Hochzeiten und Begräbnisse gehörten eher zur Welt der Erwachsenen als zu der von Kindern. Neben der Schule hatten die Jugendlichen von Sanktmartin ihre eigene aufregende Welt. Ihre Spielplätze waren die Höfe, Straßen und die Dorfwiese. Es machte Spaß,die Hühnereier zu suchen und sammeln, einem Kalb beim Saugen zuzusehen, einer Glucke beim Hüten ihrer Küken zu helfen, das Geflügel beim Putzen zu beobachten und die Schweine zu ärgern, während sie grunzend die Küchenabfälle verschlangen. Sogar leichte Stallarbeiten wurden zum Spiel. Es gab Versteckspiele und Fangspiele jedoch waren Spielzeuge- selbstgemachte und nicht gekaufte – sehr selten. Als dann meine Eltern mir einige große Gummibälle und einen Tretroller schickten, wurden wir die am meisten aufgesuchten Kinder des Dorfes.

Tiere hüten war wahrscheinlich das beliebteste Spiel der Kinder von Sanktmartin. Eigenwillige Hühnerküken und Entchen konnten im Hof gehütet werden, sture Gänse und ihre Küken auf der Dorfwiese, tobende Ferkel im Hof, auf der Straße oder der Dorfwiese. Ich hatte eine Erfahrung mit einem Ferkel, die mich zum Weinen und meinen Großvater zu einem Lachanfall brachte. Mir wurde eine wunderschöne aus geflochtenem Leder gefertigte Miniatur Hirtenpeitsche geschenkt und ich würde mit dem Hüten von zwölf quiekenden Ferkeln beauftragt. Ich schwang meine Peitsche und übte das Hüten zuerst im Hof. Dann als ich mich sicher fühlte ging’s auf die Straße, wo die Ferkeln nach ein zwei Häuserzeilen plötzlich auf und davon in alle Richtungen stoben. Meine Bemühungen, sie zu fangen, waren aussichtslos. Ich war fassungslos und brach in Tränen aus. Mein Großvater tröstete mich und zusammen mit einigen Nachbarn, die das Ganze beobachtet hatten, gelang es ihm nach einigem Hin- und Herhetzen die Ferkel zu fangen und sie zurück in den Stall zu treiben. Meine späteren Hüterepisoden waren nie ereignislos aber nicht mehr so katastrophal.

Das war das Sanktmartin meiner Kindheit, welches meine Schwester und ich spät im Jahre 1931 verließen, um unser kanadisches Leben im Fabrikghetto von Hamilton wieder aufzunehmen. Sowohl ich als auch meine Schwester hätten es vorgezogen, in unserem Kindheitsparadies, welches Sanktmartin für uns bedeutete, zu bleiben.

 

  II

 

  Jugendjahre

Hamilton war immer noch so, wie meine Schwester und ich es verlassen hatten. Das Haus in Woodleigh war immer noch voller Pensionsgäste, mein Vater verbrachte immer noch genauso viel Zeit in der Fabrik wie zu Hause und meine Mutter war immer noch damit beschäftigt von morgens bis spät in der Nacht zu putzen, kochen, waschen und bügeln. Zum Glück war das Leben meiner Mutter etwas leichter geworden. Während sie früher viel Zeit mit dem täglichen Einkauf in einigen , der vielen ethnischen Lebensmittelgeschäfte, die in unserer Nachbarschaft verstreut waren, verbrachte, wurden jetzt alle Lebensmittel geliefert. Milch- und Brotlieferwagen kamen bis zum Mittag vorbei und ein Lieferjunge kam mit dem Fahrrad, um Lebensmittelbestellungen entgegenzunehmen. Es war wichtig, dass verderbliche Lebensmittel täglich geholt oder geliefert wurden, da es keine Kühlschränke gab und Eisboxen waren auch nicht hilfreich. Leider musste meine Mutter immer noch große Mengen an Kleidung, Bettwäsche und Handtücher kochen und mit dem Waschbrett waschen bis ihre Finger Blasen bekamen, welche selten innerhalb einer Woche heilten. Mary und ich wurden nun zu Mutters Helfern: wir deckten den Tisch und halfen das Geschirr zu spülen und abzutrocknen. Mit den Jahren erweiterte sich unser Betätigungsfeld und bezog nun auch den Hof und den Gemüsegarten mit ein. Das machte keinem von uns etwas aus, da jeder irgendwie beschäftigt war und uns genug Zeit für Schule und Spiel blieb. So wurde uns sehr früh in unserem Leben eine Arbeitsethik eingeprägt, die ich eher begrüßte als übelzunehmen.

Die Obst,- Gemüse- und Hühnerfarmen welche an Hamilton grenzten, waren ein Geschenk des Himmels während der Depression die erst richtig mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 endete. Frische Erzeugnisse waren günstig zu bekommen und es gab reichlich Arbeit auf den umliegenden Farmen während in Hamilton Arbeit knapp war. Erdbeeren, Himbeeren und Johannisbeeren mussten gepflückt werden und damals wurden auch die Kirschen, Äpfel, Pfirsiche und Birnen von Jugendlichen gepflückt. Ich war einer dieser Jugendlichen . Es fing an im Alter von zwölf Jahren und dauerte bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr. Ich genoss meine Sommer mit der Farmarbeit und war von Anfang an entschlossen, unter den schnellsten Pflückern zu sein. Im allgemeinen schaffte ich es, bis zu zwei Dollar pro Tag beim Beerenpflücken und bis zu fünf Dollar beim Kirschenpflücken zu verbedienen. Fünf Dollar pro Tag war mehr als mein Vater in der Fabrik verdiente. Ich war stolz, das Meiste der einigen hundert Dollar, die ich im Sommer verdiente in die Familienkasse zu geben. Das half, denn mein Vater verdiente nur zwanzig Dollar pro Woche.

Meine Sommer bestanden nicht nur aus Arbeit. An drei Tagen in der Woche erholte und vergnügte ich mich. Meine Spielplätze waren der Schulhof, die Straßen und unbebaute Grundstücke. Die Jugendlichen spielten Fangen, Verstecken und Reliefs machen. Die Mädchen waren sehr talentiert beim Hüpfspiel „Himmel und Erde“ während die Jungen Murmelspiel, Tops und Jojo bevorzugten. Die meisten Jungen, mich einbezogen, waren sehr stolz auf ihre alten gebraucht gekauften Rollschuhe, Eislaufschuhe und Fahrräder. Diese wurden sehr gepflegt und viel verwendet. Wann immer genug Jungs zusammenkamen wurde Fußball oder Softball gespielt.

Der Schulhof, die Straßen und leeren Grundstücke waren die nächstgelegenen Spielplätze. Unsere Abenteuer fanden in einer großen Bucht, weniger als eine Meile von unserem Ghetto entfernt, an einem See nur zwei Meilen weit weg und auf einem wild bewachsenen 250 Fuß hohen Bergrücken (Niagara Steilhang, genannt Hamiltons Berg) am südlichen Rand unserer Stadt statt. Wanderungen, ob kurz oder lang, waren mein bevorzugter Zeitvertreib. Manchmal machte ich mich zusammen mit vier oder fünf Freunden nachmittags auf, um zur Bucht zu gehen. Eine Stunde trecken über Bahngleise, unbebaute Felder und Sumpfland bis zu einem der vielen Zuläufe der Bucht. Hier pflegten wir zu angeln mit unseren improvisierten Angeln, oder wir badeten nackt und wenn wir hungrig wurden, fingen wir riesige Frösche und brieten Froschschenkel am Lagerfeuer, um bis zum Abendessen zu Hause durchzuhalten.

Unsere vielen Ausflüge zum Ontariosee und dessen öffentlichen Stränden waren zahmer und viel erfreulicher aber weniger aufregend. Wir pflegten nicht zu Fuß sondern per Anhalter dorthin zu gelangen, mussten Badeanzüge tragen und verbrachten unsere Zeit mit fröhlichen Herumtollen, da das Wasser eisig kalt war und wir liebten es, Leute zu beobachten.

Das Umherstreifen in der Wildnis des Hamilton „Berges“ war mühsamer als nur wandern. Das waren im allgemeinen Ganztagsausflüge und da es keine Obstgärten zum Plündern an unserer Wegstrecke gab, mussten wir Essenspakete mitnehmen. Ghettokinder, die durch die wohlhabendere Nachbarschaft auf ihrem Weg zum „Berg“ unterwegs waren, zogen immer Alles andere als freundliche Blicke auf sich. Wir Kinder starrten dreist zurück. Wir machten unseren Ausflug und niemand sollte uns das verderben! Den Bergrücken hinaufsteigen war Schwerstarbeit aber nach einer Weile waren wir bereit stundenlang weiterzustampfen. Wir folgten einem Pfad durch den Wald, welcher zum Albion Wasserfall führte. Hier erkundeten wir eine große Wiese, einen Teich und Bäche oberhalb der Wasserfälle, aßen zu Mittag und erforschten eine etwa fünfzig Fuß unterhalb des Wasserfälle gelegene Schlucht. Dann gingen wir den selben Weg zurück, den wir gekommen waren.

Die Landschaft zwischen Hamilton und dem Niagara Wasserfall ähnelte einem Teppich gebildet aus Weinbergen, Obstgärten, verstreuten Farmhäusern, kleinen bäuerlichen Weilern und gut gepflasterten Straßen und somit geradezu eine Einladung für neugierige Jungs mit Fahrrädern. Noch vor meinem fünfzehnten Lebensjahr fuhr ich völlig plan- und ziellos mit meinen Freunden ins Blaue um zu sehen, was es zu sehen gab. Manchmal gelangten wir bis zum etwa zwanzig Meilen von Hamilton entfernten Beamsville. Wir machten kurze Halts und erforschten kurz die damals winzigen Farmgemeinschaften Stoney Creek, Winona und Grimsby. Wenn wir Durst hatten, klopften wir an die Tür eines Farmhauses und tranken Brunnenwasser und wenn wir Hunger bekamen , waren wir nicht abgeneigt, über einen Zaun zu klettern um Äpfel, Pfirsiche oder Birnen zu stibitzen. Wir wurden dabei nie erwischt. All diese erfreulichen Streifzüge zur Bucht, zum See den Bergen oder durchs Land zeigten mir klar, dass es eine interessante Welt jenseits des Fabrikghettos gab. Es waren auch wichtige Beiträge zu meiner außerschulischen Bildung. Meine schulische Bildung, welche 1930 unterbrochen wurde und 1931 wieder aufgenommen wurde war aber auch interessant und erfreulich. Die beiden ergänzten einander.

Meine Rückkehr ins Klassenzimmer nach meinen verlängerten Ferien in Sanktmartin war eine Rückkehr in die raue Realität; ein strukturierter Tag und mehr Arbeit als Spiel. Der Schock war allerdings nur kurz, da es dieselbe Schule, meine gewohnten Lehrer und meine alten Schulfreunde wieder vorfand.. Ich machte da weiter, wo ich fünfzehn Monate vorher abgebrochen hatte. Genau so wie in den heutigen Grundschulen sah unser Lehrplan meistens Lesen, Schreiben und Arithmetik vor. In den höheren Klassen kamen dann britische und kanadische Geschichte, Geografie der Welt, Literatur und Musik hinzu. Ich mochte beides gerne, das Auswendig lernen anfangs und das Aufnehmen von Informationen später.

Ich war ein sehr wissbegieriger Junge, ein guter Zuhörer, ein Einwandererkind, dass entschlossen war, sich selbst zu beweisen und andere davon zu überzeugen, dass ich mit den Besten in Allem konkurrieren kann und ich genoss es, mich dafür anzustrengen. Die Mischung all dieser Neigungen war mir sehr behilflich. Ich war Klassenbester von der sechsten bis zur achten Klasse und einer von nur zwei Schülern, welche sich für eine Aufnahme im Kolleg, eine fünfjährige Highschool/Oberschule, qualifizierten.

Das Schuljahr auf der Lloyd George Schule bestand nicht nur aus Arbeit sondern auch aus Spiel. Die Hausaufgaben waren ziemlich leicht und es blieb ausreichend Zeit für Fußball und Softball im Frühling und Herbst und für Rodeln und Hockey im Winter. Ich fand sogar noch Zeit meinem Vater und meiner Mutter bei ihren bäuerlichen Arbeit im Herbst zu helfen. Jedes Jahr wurde ein Schwein geschlachtet. Die Schinken und Würste wurden im Hinterhof geräuchert. Es wurde Wein gemacht und im Keller in Fässern gelagert. Die Regale im Keller mussten mit unzähligen Gläsern mit eingemachten Paprika, Gurken und roter Bete sowie mit eingelegten Kirschen und Birnen, einer Vielzahl von Marmeladen und eingekochten Tomaten gefüllt werden. Das war anstrengende Arbeit aber es war auch eine Lernerfahrung für die ich dankbar war.

  Meine Familie erhielt 1931 die kanadische Staatsbürgerschaft. Das hatte jedoch so gut wie keinen Einfluss auf unser Leben. Als die Familie jedoch in 1936 das Ghetto verlassen konnte und in eine Mittelklassegegend zog, veränderte sich unser Leben tatsächlich. Wir wohnten jetzt auf der rechten Seite der Eisenbahngleise in unserem eigenen Haus neben einem Einkaufszentrum und nicht mehr neben einer Fabrik. Das Leben meiner Mutter veränderte sich schnell zum Besseren: sie musste keine Pensionsgäste mehr versorgen, hatte zum ersten mal fließendes warmes Wasser, ihren ersten Kühlschrank und besonders wichtig :ihre erste Waschmaschine. Sie hatte zwar immer noch zahlreiche Aufgaben, doch nach einem Jahrzehnt war ihre Schufterei jetzt vorbei. Die Veränderung im Leben meines Vaters war weniger dramatisch aber dennoch auch positiv: durch seine nun acht- anstatt zehnstündige Schichtarbeit war er weniger erschöpft und er hatte mehr Zeit für die Familie, seinem Kreis deutscher Freunde, zum Lesen einer neuen deutschen Zeitung und sogar zum Hören einer Radiosendung auf Kurzwellen mit seinem neuerstandenen Radio. Erst als meine Eltern unter den Hamiltons, Johnsons, Mackenzies und Hendersons lebten und nicht mehr unter den eingewanderten Vasiloffs, Jelinskis und Guyreskis fingen sie endlich an, Englisch zu lernen; der Anfang ihrer langsamen sozialen Integration.

Meine Entscheidung von einer Grundschule für Einwandererkinder zu einer vorzüglichen akademischen Highschool zu wechseln, war genau so mutig und lohnend wie die Entscheidung meiner Eltern vom Ghetto wegzuziehen. Das Delta Kolleg war eine fünfjährige Bildungseinrichtung mit dem Ziel der Vorbereitung auf ein Universitätsstudium. Es war in einer sehr feinen Wohngegend gelegen und wurde hauptsächlich von den Söhnen und Töchtern reicher Engländer, Schotten und Iren besucht. Es war sicherlich nicht meine Welt und ich war etwas verunsichert. Ich hielt es für wenig sinnvoll, Französisch und Algebra zu studieren und noch weniger sinnvoll schien mir die Beschäftigung mit so exotischen Fächern wie Alte Geschichte und Latein. Nach nur drei Wochen floh ich voller Verzweiflung und meldete mich bei einer technischen Oberschule an, wo auch die meisten meiner Kindheitsfreunde waren. Glücklicherweise oder auch unglücklicherweise fand keiner der Berufe Anklang bei mir und die Wirtschaftsoberschule ließ mich auch kalt. Es dauerte bis zur Mitte des Semesters bis ich reumütig zur Delta Highschool zurückkehrte und vom verständnisvollen Schulleiter wieder aufgenommen wurde. Jetzt konzentrierte ich mich ausschließlich auf die Schule und Dank der Unterstützung meiner Eltern und der Geduld meiner Lehrer wetteiferte ich am Ende des Schuljahres bereits mit den Besten meiner Klasse. Meine Anstrengung und meine Ausdauer machten sich wieder bezahlt!

Mein erstes Jahr auf dieser Schule war mühevoll aber die verbliebenen vier Jahre waren aufregend und erfreulich. Ich war ein hervorragender Schüler sowohl in den Geistes- als auch in den Naturwissenschaften, fand auch noch Zeit für das Schulorchester und spielte gerne Hallenbasketball. Meine Abende widmete ich dem Lernen und dem Üben auf meiner Violine. Zu meinem Bedauern hatte ich nur wenig Zeit zum Ausgehen oder Feiern und glücklicherweise keine Zeit zum Faulenzen oder Langeweile selbst nicht in den Sommerferien. Zwei Sommer lang arbeitete ich weiterhin auf Obstfarmen rund um Hamilton und dann zwei weitere anstrengende Sommer auf einer 75 Meilen von Hamilton entfernt gelegenen Tabakfarm (Eine weitere Lernerfahrung).

Zum Glück wurden meine Mühen und meine Ausdauer fast täglich belohnt. Jedes der drei Jahre nach meinem leidvollen Schulwechsel wurde mir eine kleine Goldmedaille für meine guten Noten verliehen und die McMaster Universität von Hamilton gewährte mir ein Studienstipendium für meine Leistungen bei den regionalen Prüfungen am Ende des fünften Schuljahres. Ich hatte geplant mich auf einer Normalen Schule des Delta Kollegs zum Grundschullehrer ausbilden zu lassen aber das McMaster Stipendium überzeugte mich eine akademische Ausbildung anzufangen

 

  III

  

  Meine Universitätsjahre

 Da mein McMaster Stipendium nicht ausreichte, nahm ich gleich nach dem Abschluss der Highschool einen Sommerjob in der Fabrik an. Die Fabrik zahlte besser als die Farmer und das reichte, um mir über die folgenden Schuljahre hinwegzuhelfen. Während der nächsten vier Sommer meiner McMaster Jahre und während meines ersten Jahres auf Harvard arbeitete ich als einfacher Arbeiter in der Stahlgießerei von Hamilton.

Die Arbeit in einem einfachen Stahlwerk der Vorweltkriegszeit war eine schiere Qual in den heißen Sommern . Der ständige Lärm war ohrenbetäubend, die rußgefüllte Luft war erstickend und die Hitze und die Arbeit waren sehr anstrengend. Ohrenstöpsel waren unentbehrlich. Salztabletten halfen gegen Muskelkrämpfe und Stahlkappenschuhe und spezielle Hanschuhehe schützten meine Füße und Hände. Die Arbeit in Schichten (7-3, 3-11, 11-7) macht das Ganze auch nicht leichter. Die Fabrik war nachts genau so heiß wie tagsüber, der Schlaf in der Tageshitze nach der Nachtschicht war im besten Falle unruhig wenn überhaupt möglich und der wöchentliche Wechsel der Schichten war irritierend für den Geist und den Körper. Es war eine Schinderei, aber die gute Bezahlung zusammen mit meinem Stipendium ermöglichten mir, mein Studium fortzusetzen.

Meine vier McMaster Jahre waren sowohl lohnend als auch angenehm. Im Jahre 1941 war es immer noch ein baptistisches Kolleg mit nur vierzig Professoren und Dozenten und mit nur etwa siebenhundert Studenten. Es schien, als würden sich alle Studenten auf McMasters zumindest vom Sehen kennen. Am Eröffnungstag des Herbstsemesters versammelten sich alle Studienanfänger in der Kapelle der Universität und man ermahnte sie, dass sie nun Erwachsene wären und sich entsprechend kleiden und benehmen sollten. Kleidung bedeutete Anzug und Krawatte und für Studentinnen Röcke und Strümpfe. Es herrschte eine etwas Britisch anmutende Förmlichkeit vor. Die Professoren trugen schwarze akademische Talare. Desgleichen auch die Abschlusssemester. Die täglichen vormittäglichen Messen in der Kapelle wurden sowohl von Studierenden als auch von Lehrenden gut besucht.

Ich wählte Französisch und Deutsch als Hauptfächer und als Nebenfächer Englisch und Latein. Mit Ausnahme der breitenanfordernden Kurse in Geschichte, Psychologie und Naturwissenschaften bestanden meine Kurse durchschnittlich aus nicht mehr als zehn Studenten und somit war der Unterricht sehr persönlich. Da alle physisch Tauglichen in die Reserveoffiziersausbildungskorps aufgenommen wurden und uniformiert an zwei Nachmittagen pro Woche an Militärübungen teilnahmen und ich auch noch zwei Stunden hin und zurück zur Universität pendelte, blieb mir keine Zeit für Hallensport geschweige denn für das Geigenspiel oder das Schulorchester. Aber mir gefiel alles und ich behauptete mich gut.

Anfang 1945 als der Zusammenbruch Deutschlands absehbar wurde und auch, dass der Krieg bald enden würde, musste ich eine rasche Entscheidung treffen. Mein Plan war gewesen, auf eine Pädagogische Hochschule in Toronto zu gehen, um dort das Lehreramt für die Oberschule anzustreben. Diese Möglichkeit hatte nun ihre Attraktivität verloren. Die Einführung in das Literaturstudium auf McMaster hatte meinen Appetit auf weitere literarische Studien angeregt und ein Studium auf einer guten amerikanischen Universität könnte ein weiteres spannendes Abenteuer werden. Ich fokussierte mich dreist auf das Beste und richtete meinen Blick auf Harvard. Ich bewarb mich für die Harvard Hochschule und wurde angenommen. Es wurde mir sogar ein Stipendium angeboten. Ich beendete sogleich meinen Sommerjob, packte meine Koffer und begab mich nach Cambridge, Massachusetts nicht ohne Herzklopfen.

Mein erstes Jahr in Cambridge war, wie erwartet, eine schwierige Herausforderung. Ich hatte einen Monat lang Heimweh. Ich war weit weg von zu Hause und den Freunden, wohnte bei Fremden und aß drei mal pro Tag in der Mensa. Mein Wechsel von der winzigen, einfachen McMaster zur kolossalen und weltberühmten Harvard war zuerst unbehaglich bis ich einige Professoren und ihre Erwartungen kennenlernte und einige Freundschaften mit Kommilitonen Schloss.

Auf McMaster hatte ich hauptsächlich Deutsch, Französisch, Englisch und Latein studiert. Meine fünf Jahre auf Harvard widmete ich fast ausschließlich der deutschen Sprache und Literatur. Meine Aufmerksamkeit galt sowohl der Philologie (historische Linguistik) als auch der Literatur. Die Geschichte der deutschen Sprache diente mir als Gerüst für die speziellen Studien des Gotischen, des Althochdeutschen, Mittelhochdeutschen und des frühen Neuhochdeutsch. Es wurde auch Kenntnisse in Französisch, Latein und einer zusätzlichen germanischen Sprache gefordert. Die Auswahl an Literaturvorlesungen war genau so groß wie die der erforderlichen Sprachkurse. Während die Studien der Epik, Sagen, Ritterromane, Dichtung, Fabeln und Dramen des Althochdeutsch ( 8. Jahrhundert) und des 18. Jahrhunderts hauptsächlich informatorisch waren, war mein Studium der deutschen Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert sehr gründlich.

Am Ende meines ersten Jahres in Amerika fühlte ich mich bereits ziemlich heimisch in Cambridge. Ich war überzeugt, dass ich den Erwartungen von Harvard genügte. Ich war nun Magister und wurde in das Promotionsprogramm der deutschen Abteilung mit einem Lehrauftrag. Meine Zukunft war vielversprechend und ich war zufrieden. Die kommenden vier Jahre waren genauso zeit- und arbeitsintensiv wie mein erstes Jahr aber sie waren dankenswerterweise ohne die Befürchtungen, die ich im ersten Jahr hatte..

Meine Tage an der Harvard Universität begannen um 9 Uhr morgens und endeten um 10 Uhr spät abends. Im ersten Jahr widmete ich mich nur dem Studium. Während der restlichen vier Jahre hatte ich an drei Vormittagen zwei Deutschgrundkurse vorzubereiten und zu unterrichten. An den Nachmittagen belegte ich bis zu zwei erforderliche Kurse, und las die vorgeschriebene Literatur. Und abends lernte ich und verfasste Schriften in der Widener Bibliothek bis diese um 10 Uhr abends schloss.

So wie auf der McMaster hatte ich wenig Zeit für Ausgehen und Feiern. Ich genehmigte mir nur gelegentlich außerschulische Aktivitäten, wie Geburtstagsfeiern, Volkstanz oder einen Spaziergang entlang des Charles River. Ich besuchte sporadisch die Bostoner Konzerthalle, Beacon Hill, die gefeierte Faneuil Halle und ein unvergessliches Wochenende verbrachte ich in Cape Cod und ein weiteres mit einer Stadtrundfahrt in New York. Die Wochenenden waren immer zu kurz!

Obwohl ich nie ein regelmäßiger Kirchgänger war, hatte ich immer einige Kontakte zu verschiedenen christlichen Glaubensgemeinschaften. Die Unterschiede des Dogmas und der Glaubensausübungen haben mich lange interessiert aber ich würde nie ein wahrer Gläubiger.

Ich würde in Sanktmartin von einem Priester getauft, habe als Kind oft die Messe mit meinen Großeltern besucht und beteiligte mich an vielen katholischen Feierlichkeiten. Da mir eine Veranlagung zum Denken und Handeln gegeben war, wäre ich wahrscheinlich Priester geworden wenn ich Rumänien nicht verlassen hätte. In Kanada sollte das aber nicht der Fall sein. Ich besuchte niemals eine katholische Schule, ging aber regelmäßig zur Messe bis ich mit zwölf Jahren meine erste Beichte ablegte und zur Kommunion ging. Dann entfernte ich mich vom Katholizismus und wurde für etwa drei Jahre Mitglied der Lutherischen Glaubensgemeinschaft. Das Mysterium der katholischen Messe hatte mich beeindruckt. Die Kongenialität und der freudvolle Gesang der Lutheraner erfreute mich, aber ergriffen wurde ich weder von dem einen noch dem anderen.

Während meiner Hochschuljahre hielten meine religiösen Interessen, warum auch immer, einfach Winterschlaf. Es war unausweichlich, dass das baptistische McMaster mit seinen täglichen Besuchen in der Kapelle, seinen pietätvollen Professoren und dem eingeforderten Bibelstudium meine Aufmerksamkeit wieder auf die Religion lenkte. Dieses auf McMaster vordergründige Interesse wanderte nun in Harvard in den Hintergrund.

Cambridge mit seinen vielen unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften erwies sich als glücklicher Jagdgrund. Ich verbrachte viele Sonntagvormittage in der einen oder der anderen Kirche: eine feierliche katholische Messe, eine stille Quakerzusammenkunft, eine nüchterne Swedenborg Andacht oder eine rationelle humanistische Unitarische Predigt. Jede dieser sehr unterschiedlichen Ausdrucksweisen der Christenheit gaben meinen Gedanken viel Anregung aber zum Glauben reichte es mir nicht. Was als Glaubensfrage begonnen hatte, wurde zum vergleichenden Studium christlicher Glaubensgemeinschaften.

Bei meiner religiösen Suche war ich viel weniger von den verschiedenen Dogmen, Gottesdiensten und Kanzelpredigten beeindruckt, als vom Gesang einer kleinen Gruppe von Mönchen eines Klosters, welches in einer der zahlreichen Seitenstraßen von Cambridge versteckt lag. Ich blieb so etwas wie ein ungezwungener Agnostiker mit Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Lebens, der Natur und dem Mysterium des Universums.

Meine beiden letzten Harvard Jahre waren die glücklichsten meines Lebens. Ich verließ mein Privatzimmer, meine Abgeschiedenheit und die Mensa und bezog ein Wohnheim für Graduierte, aß im Esszimmer für Graduierte und hatte mehr Kontakte zu anderen Studenten. Ich hatte meine Kurse beendet und konnte mich nun die meiste Zeit meiner Dissertation widmen. Hermann Hesse hatte mein Interesse geweckt als er 1947 den Literaturnobelpreis verliehen bekam. Als ich seinen verblüffend innovativen Roman, Steppenwolf, gelesen habe, wusste ich sofort, dass er der Gegenstand meiner Dissertation sein würde. Ich reichte meine Dissertation Anfang 1950 ein und die mündliche Verteidigung erfolgte bald danach. Im Juni wurde mir der Doktortitel verliehen.

Ende gut alles gut. Meine Studentenjahre mit ihren Prüfungen und viel Mühsal waren vorbei und drei Universitäten boten mir bereits eine Lehrauftragsstelle an. In der Nachkriegszeit schnellten die Studentenzahlen an den Kollegs und Universitäten in die Höhe, Hochschulen mussten erweitert werden und es gab einen Mangel an Philosophiedoktoren. Ich hätte mein Studium zu keinemr günstigeren Zeitpunkt beenden können. Ich entschied mich für Berkeley in Kalifornien und gegen die Brown und die Northwestern Universität. Das Gehalt war akzeptabel und die Arbeitsbelastung ließ mir genügend Zeit für Forschung. Darüber hinaus lockten mich die Sonne und die Orangenhaine. Ich habe meine Entscheidung nie bereut.

  IV

  Meine Berufliche Laufbahn

 

In Cambridge hatte ich mich als Student behauptet und nun musste ich mich als Professor in Berkeley beweisen. Mir war von vornherein bewusst, dass es keine unbedeutende Herausforderung sein würde. Die Beförderung vom Lehrbeauftragten zum Professor würde von der Qualität der Lehre und produktiver wissenschaftlicher Forschung abhängen. Das Letztere bedeutete stetige Veröffentlichung von Artikeln und die regelmäßige Veröffentlichung eines Buches. Verschiedene Verwaltungsaufgaben in der Abteilung und der Universität brachten zusätzliche Punkte. Die Erwartungen waren klar und mir wurde schnell bewusst, dass meine übliche Einsatzbereitschaft und meine Beharrlichkeit erforderlich waren, um zu erfüllen, was erwartet wurde.

Der Sprach- und Literaturunterricht war schon immer eine erfreuliche Herausforderung für mich. Berkeley gab mir die Gelegenheit beides zu tun. In den ersten acht Jahren unterrichtete ich Grund – und Fortgeschrittenen Kurse, dann kamen nach und nach mehr Literaturkurse dazu und in den letzten zwanzig Jahren vor meiner Pensionierung waren es nur Literaturvorlesungen und -seminare. In meinen Literaturkursen behandelte ich deutsche Literatur und Drama vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und meine Seminare konzentrierten sich hauptsächlich auf Romane und Kurzgeschichten von Hermann Hesse, Thomas Mann und Franz Kafka. Die erforderlichen Leistungsbewertungen der Studenten erfolgten unmittelbar und waren mit wenigen Ausnahmen erfreulich positiv.

Die Einschätzung von wissenschaftlichen Veröffentlichungen durch die Kollegen waren im Gegensatz zu den Rückmeldungen der Studenten oft verspätet und unglückerweise häufig zögerlicher bei Lob als beim Finden von Fehlern; waren meine Kollegen doch auch meine Konkurrenten. Das führte oft zu fragwürdigen Kündigungen und ungerechten Verzögerungen von Beförderungen. Ich erlebte zu viele dieser Verleumdungen und die Deutsche Abteilung litt darunter. Meine eigene Beförderung zum ordentlichen Professor wurde in unangemessener Weise verzögert von einem unehrlichen älteren Kollegen. Das spornte mich zu größerer Anstrengung an! Im Laufe meiner aktiven vierzig Jahre muss ich wohl etwa zweiundvierzig Artikel und fünf gut rezensierte Bücher veröffentlicht haben. Ich würde zu einem von mehreren international anerkannten Hermann Hesse Fachmännern.

Neben meiner Lehr- und Forschungsarbeit leistete ich verschiedene Dienste für die Abteilung und die Universität. Vor Ende meines ersten Jahres in Berkeley wurde mir die Leitung der Abteilung von etwa fünfundvierzig Assistenten und den ersten beiden Jahren des Sprachunterrichts anvertraut. Ich beaufsichtigte dieses Programm und wurde außerordentlicher Professor in 1958. In den Sechzigern war ich drei Jahre lang studentischer Berater und danach für weitere drei Jahre Berater für Absolventen. In den siebziger Jahren war ich drei Jahre lang stellvertretender Dekan der Fakultät für Geistes-und Naturwissenschaften und vier Jahre lang Ombudsmann der Universität . In den achtziger Jahren war ich fünf Jahre lang Vorsitzender der Deutschabteilung. All diese Aufgaben waren eine lehrreiche Herausforderung für mich und ich schenkte ihnen ohne zu murren die beachtliche Aufmerksamkeit, die sie verdienten.

Von Anfang an drohten die Lehre, meine Forschung und die weiteren Aufgaben für die Abteilung und die Universität mein Lebensinhalt und nicht Teil meines Lebens zu werden. Ein gesundes Gleichgewicht zwischen meiner Karriere und meinem Privatleben herzustellen, war eine riesige Herausforderung. Rückblickend würde ich sagen, dass sich seit meinen Anfängen in Berkeley zu viel um das Akademische drehte und für mein Privatleben nicht ausreichend Zeit blieb. So wie in Harvard begann ein typischer Arbeitstag früh am Morgen und endete spät in der Nacht. In einer typischen Woche benötigte ich etwa dreißig Stunden für die Lehre und die damit verbundenen Verpflichtungen und für verschiedene anderen Aufgaben und etwa zwanzig Stunden widmete ich der Forschung und dem Schreiben. Die Sabbatjahre waren der intensiven Forschung und dem Schreiben vorbehalten wie auch der Überarbeitung von alten und der Vorbereitung neuer Kurse. Meine Heirat , mein Heim und meine Familie veränderten mein Privatleben positiv aber meine festeingewurzelten Arbeitsgewohnheiten blieben im Großen und Ganzen unverändert erhalten.

Im Jahre 1951 kaufte ich ein Landhaus auf den Berkeley Hügeln. Im selben Jahr fand ich eine attraktive dänische Partnerin und in den folgenden acht Jahren bekamen wir drei Kinder und bauten ein großes Haus, um alle unterzubringen. Aber weder meine Partnerin ( eine Doktorandin in der Deutschen Abteilung und Lehrbeauftragte für Dänisch in der Skandinavischen Abteilung) noch ich selbst waren geneigt unsere Karrieren einzuschränken, um den Anforderungen von Heim und einer wachsender Familie gerecht zu werden. Einige Jahre gelang es uns mit ständigen Haushaltshilfen und Kinderbetreuung, Familie und Karriere zu vereinen. Jedoch während unsere Karrieren erfolgreich waren, war unser Familienleben mehr beiläufig ohne liebevolles Miteinander. Die Eltern hatten zu wenig Zeit für einander und die Kinder waren zu oft sich selbst überlassen. Dazu kam noch, dass meine Frau manisch depressiv war und in den Sechzigern und Siebzigern einen Nervenzusammenbruch erlitt. In den Siebzigern wurde es offensichtlich, dass die Ehe eine zu große Bürde für meine Frau geworden war. Sie verließ das Haus, ihren Mann und die Kinder und reichte 1975 die Scheidung ein. Die Scheidung war ein Gottesgeschenk , eine leidvolle Erleichterung für alle Betroffenen. In den folgenden Jahren, auf sich allein gestellt, ging es meiner Frau besser und ich wurde ein besserer Vater.

Nun, uns selbst überlassen, wurden meine Kinder und ich richtig häuslich. Ein Haus musste in Ordnung gehalten werden, Mahlzeiten mussten zubereitet werden und ein Garten und der Hügel mussten gepflegt werden. Wir hatten alle unsere Aufgaben und es lief alles halbwegs gut. Mehr Zeit für die Familie bedeutete weniger Zeit für den Beruf. Glücklicherweise hatte das keine negative Auswirkung auf meinen Unterricht und meine wissenschaftliche Leistung. Obwohl langsamer blieb alles zufriedenstellend bis ich 1991 pensioniert wurde.

  V

  Leben als Pensionär

Vor meiner Pensionierung ermöglichte mir mein Gehalt und gute Einkünfte aus Immobilien ein finanziell sorgenfreies und materiell bequemes Leben. Es war mir möglich, meinen Kindern ein Studium zu ermöglichen und mein Exfrau finanziell zu unterstützen. Nach der Pensionierung garantierten mir meine Pension, die Sozialversicherung, Ersparnisse sowie Investitionen und Börsengewinne ein finanziell sicheres Leben im Alter. Es war mir möglich, meine erwachsenen Kinder und meine kranke Frau zu unterstützen und meine Enkelkinder durchs College zu bringen. Zu helfen, anstatt hilfsbedürftig zu sein, war zufriedenstellend aber die Freiheit mich jetzt mit was auch immer und wann auch immer zu beschäftigen war einfach beglückend.

In den Neunzigern wechselten meine langfristigen akademischen Interessen zu mehr weltlichen und persönlichen Aktivitäten. Ich hatte all die Jahre den Kontakt mitmeinem rumänischen Geburtsort aufrechterhalten. Ich hatte Sanktmartin viele Male besucht und eine aktive Korrespondenz mit Verwandten und Freunden weitergeführt. Ich hatte mich mit dem politischen, wirtschaftlichen und allgemein sozialen Schicksal von Sanktmartin im kommunistischen Rumänien nach dem Zweiten Weltkrieg befasst. Nach einigen Forschungsreisen nach Rumänien in den frühen Neunzigern veröffentlichte ich eine Artikelsammlung über Sanktmartins Schicksal im kommunistischen Rumänien. Das Buch erschien 1993. Danach beschäftigte ich mich mit dem deutschen Dialekt, welcher im 18. Jahrhundert in Sanktmartin gesprochen wurde und veröffentlichte diese linguistische Studie als Buch in 1997. Danach verfasste ich eine Sammlung von Artikeln über die Massenauswanderung der Sanktmartiner nach der Ermordung Ceausescus in 1989. Die Deutschen konnten endlich unbehelligt und ohne Bestechung Rumänien verlassen und sie taten das en masse. Das deutsche Sanktmartin wurde zum rumänischen Sin Martin.

Da ich nun meinem Geburtsort genügend Respekt gezollt hatte, lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf eine andere langfristige Beschäftigung und zwar die Poesie. Meine Liebe zur Poesie hatte in der Highschool begonnen. Ich fing selbst an Gedichte zu schreiben während ich auf McMaster war und danach schrieb ich jahrzehntelang nur noch gelegentlich mal ein Gedicht aus Mangel an Zeit und aktivem Interesse. In meiner Rentenzeit erwachte mein Interesse an der Poesie wieder neu. Ich hatte hauptsächlich romantische Gedichte geschrieben. Jetzt schrieb ich existentielle Überlegungen und sozio-politische Kommentare in Versen. Von 2008 bis 2012 erschienen drei Büchlein mit ziemlich pikanten Gedichten und Epigrammen.

Ich war 1953 amerikanischer Staatsbürger geworden aber ich schenkte viele Jahre der soziopolitischen Lage Amerikas sehr wenig Aufmerksamkeit; sei es aus Mangel an Interesse oder Zeit. Erst in meinen Ruhejahren erhielt Amerika die ernste Aufmerksamkeit, die es verdiente. Meine Beschäftigung mit der amerikanischen Innen- und Außenpolitik, Kapitalismus und Individualismus, Materialismus und Konsumverhalten, seinem Imperialismus und Militarismus findet sich in meinem kürzlich veröffentlichten und wahrscheinlich letztem Buch“ America: An Empire in Disarray (2013). ( Amerika: Ein Imperium in Unordnung/Zerfall ).

Während ich im Ruhestand fast genau so viel schrieb wie in den Jahren davor, hat sich mein Privatleben deutlich verlangsamt. Ich arbeite noch im Garten dem Haus und der Küche aber immer langsamer und mit weniger Schwung. Mein Freundeskreis verkleinerte sich dramatisch aber meine Kinder und Enkelkinder sind mir als tröstlicher Ausgleich geblieben. Mary , meine sehr geschätzte Busenfreundin der letzten fünfunddreißig Jahre und Piccola, mein verspielter Dachshund seit vier Jahren- der letzte meiner vielen Vierbeiner- waren und sind immer noch eine erfreuliche Gesellschaft. Außer einer Mandel,-Schilddrüsen,- und Operation am grauen Star war ich nie ernsthaft krank und ich hoffe sehr, dass ich noch einige Jahre weiterhin mit Gesundheit gesegnet sein werde, denn ich plane noch ein wenig zu verweilen.

Alles in Allem war das Leben gut zu mir und ich hatte viel Glück. Leid und Sorgen wurden ausgeglichen durch Wohlbefinden und Freude und mein Kampf wurde großzügig belohnt. Ich war gesegnet mit guten Genen und das Schicksal meinte es gut mit mir. Und wenn meine Zeit kommt, hoffe ich, mit dankbarem Lächeln zu gehen.

Dezember 2013